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Der König und der Bettler

in Nachdenkgeschichte 18.10.2012 20:51
von Bille • 3.170 Beiträge

Zu einer Zeit, vor unserer Zeit im fernen Persien war es an der Zeit, das Neujahrsfest vorzubereiten. Der König scheute keinen Aufwand. "Ich möchte, dass es ein wirklich königliches Neujahrsfest wird. Die Gästeliste soll überquillen von großen Persönlichkeiten. Die Tische sollen sich biegen unter den besten Fleischtöpfen, und der Wein soll nur aus erlesensten Trauben und bestem Jahrgang bereitstehen."
Die Berater des Königs schwärmten aus und brachten aus allen Landesteilen nur das Köstlichste. Der König war noch nicht zufrieden."Ich will mehr sehen. Mehr, mehr und mehr!"
Und wieder schwärmten die Berater aus und brachten aus den entlegensten Winkeln des Reiches die besten Hammel und besten Weinsorten vor den König. Noch immer war er nicht zufrieden. "Ich will viel mehr sehen"!, schleuderte er ihnen entgegen. Und seine Berater berieten sich erneut und überboten sich mit neuen Vorschlägen. So ging es eine Weile hin und her. Doch noch immer war der König nicht zufrieden.
"Warum will er so bombastisch feiern?" fragten seine Berater ratlos. Schließlich nahm einer aus der Runde all seinen Mut zusammen und fragte seinen Herrn, warum er denn so maßlos schlemmen wolle.
Wütend warf der König seinen Trinkbecher an die Wand. "Im letzten Jahr habe ich ein fast durch nichts zu überbietendes Fest gegeben. Aber die ganze Stadt sprach nur vom Fest bei Ramun, dem Bettler. Dort wurde getrunken und gelacht bis zum Nachmittag des nächsten Tages. Im Jahr davor war es dasselbe. Ebenso im Jahr davor und davor und davor...."
Der König bebte vor Wut. "Einmal muss es mir doch gelingen, diesen Wurm zu übertrumpfen, denn ich, ich allein bin der König."
Mit flackernden Pupillen schrie er seine Berater an: " Was hat der Bettler, was ich nicht habe?"

Der Berater war ein kluger Mann. Sich tief vor seinem König verneigend, fragte er seinen Gebieter: "Habt Ihr je mit dem Bettler gesprochen? Es muss doch einen Grund geben, warum die Leute das Fest des Bettlers so lieben, obwohl sie doch in so schäbiger Hütte ihren eigenen mitgebrachten Happen essen und den billigsten Wein trinken müssen."
Da sah der König seinen Berater nachdenklich an. Schließlich nickte er stumm und sagte: "Gut, schafft mir diesen Ramun heran." Und so geschah es.
Wenig später beugte sich der Bettler vor seinem König nieder. "Steht auf", knurrte der König. "Sag mir, warum lieben die Menschen Dein Neujahrsfest so sehr, dass es tagelang das Gesprächsthema in der Stadt ist, während mein Neujahrsfest nicht einmal beachtet wird.
Denn bin nicht ich der König ?"

Der Bettler richtete sich auf. "Mein König, das Volk beachtet Deine Feste wohl. Denn des Königs Feste sind der Grund dafür, dass wir feiern.
Jahr für Jahr feiert Ihr größer und schöner. Wir treffen uns Jahr für Jahr in meiner schäbigen Hütte, trinken billigen Wein und essen das gleiche zähe Fleisch.
Und doch ist unser Fest viel schöner als das Eure. Wir schwatzen und singen, erzählen uns Geschichten, jeder kennt jeden, alle vergessen ihre Mühsal und Sorgen, wir sind Freunde und brauchen einander.
Wenn wir den Prunk sehen, den Eure Gäste brauchen, um in Stimmung zu kommen, dann merken wir, wie reich wir doch sind."


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