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Urteile

in Nachdenkgeschichte 18.10.2012 22:23
von Bille • 3.172 Beiträge

Urteile

Ein alter Mann lebte in einem Dorf, sehr arm, aber viele waren neidisch auf ihn, denn er besaß ein wunderschönes weißes Pferd, aber er verkaufte es nicht. Eines Morgens fand er sein Pferd nicht im Stall. Das ganze Dorf versammelte sich und die Leute sagten: „Du dummer alter Mann! Wir haben immer gewusst, dass das Pferd eines Tages gestohlen wird. Es wäre besser gewesen, es zu verkaufen. Was für ein Unglück.“ Der alte Mann aber antwortete ihnen: „Geht nicht so weit, das zu sagen. Alles was ist, ist: Das Pferd ist nicht im Stall. Soviel ist Tatsache. Alles andere ist Urteil. Ob es ein Unglück ist oder ein Segen weiß ich nicht, weil ich nicht weiß was folgen wird.“

Die Leute aber lachten den Alten aus. Sie hatten schon immer gewusst, dass er ein bisschen verrückt war. Aber nach fünfzehn Tagen kehrte das Pferd zurück. Es war nicht gestohlen worden, sondern in die Wildnis ausgebrochen. Und nicht nur das es zurück kehrte, es brachte auch noch zwölf Wildpferde mit. Wieder sammelten sich die Leute und sagten: „Alter Mann, du hattest recht, es hat sich als Segen erwiesen. Jetzt hast du viele Pferde und bist reich, was für ein Glück für dich.“ Der Alte entgegnete: „Wieder geht ihr zu weit. Alles, was ist, ist: Das Pferd ist zurück. Ihr lest nur ein einziges Wort in einem Satz, wie könnt ihr das ganze Buch beurteilen?“

Der alte Mann hatte einen einzigen Sohn, der sofort begann die Wildpferde zu trainieren. Schon eine Woche später wurde er von einem Wildpferd abgeworfen und brach sich die Beine. Wieder sammelten sich die Leute und wieder urteilten sie: „Du hattest recht, es war ein Unglück. Dein einziger Sohn kann nun seine Beine nicht mehr gebrauchen und er war die Stütze deines Alters. Jetzt bist du ärmer als je zuvor.“ Der Alte aber schüttelte den Kopf und sprach: „Ihr seid besessen von Urteilen. Alles, was ist, ist: Mein Sohn hat sich die Beine gebrochen. Das ist natürlich schrecklich, aber niemand weiß ob sich dies, als Unglück oder als Segen erweisen wird. Das Leben kommt in Augenblicken und mehr bekommt ihr nie zu sehen.“

Es ergab sich, dass das Land einen Krieg begann und alle jungen Männer des Ortes wurden zwangsweise zum Wehrdienst eingezogen. Nur der Sohn des alten Mannes blieb zurück, weil er gebrochene Beine hatte. Der ganze Ort war vom Wehgeschrei erfüllt, weil ein Krieg viele Opfer fordern würde und man wusste, dass die meisten jungen Männer nicht nach Hause zurückkehren würden. Die Leute kamen zum alten Mann und sagten: „Du hattest recht, es hat sich als Segen erwiesen“ Der alte Mann: „Ihr hört nicht auf zu urteilen. Alles, was ist, ist: Man hat eure Söhne in die Armee eingezogen. Nur das Ganze weiß, ob dies ein Segen oder ein Unglück ist.“
Urteile nie!


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