#1

Ein Zen-Märchen

in Nachdenkgeschichte 18.10.2012 21:08
von Bille • 3.272 Beiträge

Ein Geschenk von Manfrieds Trelleborg ( http://trelleborg.niewergin.de/viewpage.php?page_id=3 )


Es war einmal ein Drache, der immer sehr hungrig war und der am liebsten Menschen fraß. Hoch oben im Gebirge saß er auf der Paßhöhe und späht nach beiden Seiten ins Tal hinunter, wann endlich ein Wanderer käme, den er verspeisen könnte. Und schon seit Jahrzehnten war kein einziger Mensch von der einen Seite des Gebirges über den Paß auf die andere Seite des Gebirges herübergekommen - alle Wanderer waren im Magen des Drachen gelandet. Und schon viele tapfere junge Männer hatten versucht, mit dem Drachen zu kämpfen und ihn zu töten. Aber auch sie waren gefressen worden.

Ein junger Recke dachte sich: "Diesen Leuten fehlte das richtige Training." Und er übte eisern Schwertkampf und Speerkampf. Und dann ging er noch ins Zen-Kloster zu einem Meister, um die Kunst des richtigen Sterbens zu lernen. Als das Training beendet war, zog der junge Mann ins Gebirge zu dem Paß, wo der Drache hauste, schwer bewaffnet mit sieben Schwertern und sieben Speeren und einem großen Schild.

Hoch oben auf der Paßhöhe saß der Drache; er sah von weitem den jungen Mann herankommen und freute sich unbändig darüber, daß endlich wieder Futter in Sichtweite war. Aus lauter Appetit lief der Drache dem Helden ein Stück Weges entgegen. Und als der Drache auf Wurfweite entfernt war, warf der junge Mann einen Speer nach dem anderen auf das Untier. Aber alle sieben Speere blieben im Brustpanzer des Drachen stecken und sahen dort sehr gut aus. Und als der Drache ganz nahe war, hieb der junge Recke mit seinen Schwertern auf die Schnauze des Drachen ein. Aber ein Schwert nach dem anderen zersplitterte am Kopfpanzer des Drachen und kitzelte das Tier nur recht angenehm. Als alle Waffen verbraucht waren, konnte auch der große Schild nichts mehr helfen...

Blitzschnell setzte sich der junge Recke in den Lotus-Sitz, um würdig zu sterben, wie er es bei seinem Zen-Meister gelernt hatte. Der Drache wollte zubeißen, aber vor Erstaunen blieb ihm der Mund offen stehen. "Sag' mal, was machst du? Spinnst du?" fragte der Drache. - "Damit du es weißt", sagte der junge Mann, "ich meditiere jetzt. Und wenn du mich beißt, so beißt du dich! Wenn du mich frißt, so frißt du dich! Denn ich und du - wir sind eins." Der Drache stöhnte: "Um Gottes Willen, höre auf mit deiner blöden Philosophie! Mir wird ja ganz schlecht von deinem Gerede! So ein Unsinn!"

Während der Drache noch redete, war der junge Mann blitzschnell aus dem Lotus-Sitz aufgesprungen und davongerannt. Er kam auf der gleichen Seite des Gebirges wieder ins Tal hinunter - ohne Waffen, aber lebendig.

Und er sagte zu seinen Freunden:

"Was heißt hier Siegen?

Überleben ist die Hauptsache!"

Doch von jetzt an wurde im Gebirge alles anders. Unbehelligt konnten die Wanderer von der einen Seite des Gebirges über den Paß auf die andere Seite des Gebirges hinüberziehen. Oben auf der Paßhöhe saß kein Drache mehr. Nur manchmal erzählte ein Wanderer, er habe hoch oben auf der Alm einen Drachen gesehen, der vor sich hintrottete und das Gras abweidete. Und ein Wanderer erzählte sogar, er habe einen Drachen gesehen, wie er sich rücklings an eine Felswand lehnte und den Lotus-Sitz versuchte. Und der Drache habe ständig vor sich hingemurmelt:

Wenn du mich beißt, so beißt du dich.

Denn du und ich - wir sind eins.

Und wenn du mich frißt, so frißt du dich.

Denn du und ich - wir sind eins.


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